Mehr Mut zur unbequemen Wahrheit
Schon lange nicht mehr waren Herausforderungen für Journalisten und Medienhäuser so komplex und vielschichtig wie derzeit. Die Folgen der Digitalisierung, Fragen zur Finanzierung von Qualitätsjournalismus, neue Erlösmodelle – das sind zukunftsentscheidende Themen auf einer Agenda, die noch nie so umfangreich war wie heute.
Ein weiteres Thema gewinnt an Tragweite und zwingt zu Selbstreflexion. Es lässt sich bündeln unter der Frage: Woher kommt es eigentlich, dass sich ein Teil der Gesellschaft zunehmend von uns Journalisten und der etablierten Presse entfremdet?
Dabei ist nicht die Rede von denen, die bei Pegida "Lügenpresse auf die Fresse" schreien. Das ist die schamlose Diffamierung eines ganzen Berufsstandes durch Extremisten und deren Anhänger mit dem Ziel, die Macht und Kontrollfunktion der freien Presse zu beschneiden. Gegen diese Kräfte müssen sich Journalisten zur Wehr setzen und die Angriffe aushalten – egal wie schwer erträglich das im Einzelfall sein kann. Aber wie sollen Journalisten einem grundsätzlich gewachsenen Misstrauen gegenüber ihrer Arbeit begegnen? Wie kann es dazu kommen, dass aufgeklärte Menschen aus dem Bildungsbürgertum glauben, dass Presseberichte über Flüchtlinge staatlichen Stellen zur Autorisierung vorgelegt werden müssen?
Dieser Irrsinn ist nur zu einem Teil den "Fake News" im Netz zuzuschreiben. Ein abscheulicher Euphemismus übrigens für ein Phänomen, das mit "Lügennachrichten" zutreffender beschrieben wäre. Ein Teil der Wahrheit ist sicher auch, dass zu viele Kollegen in der Vergangenheit den Eindruck mangelnder Distanz zu "denen da oben" erweckt haben. Und dass zu oft eine Welt beschrieben wird, die man gerne hätte und die offenbar ganz anders aussieht als die Welt, die unsere Leser tagtäglich erleben. Auch wenn dies aus ehrenhaften Gründen geschieht, ist es grundsätzlich falsch. Rudolf Augstein hat einmal gesagt: "Ich glaube, dass ein leidenschaftlicher Journalist kaum einen Artikel schreiben kann, ohne im Unterbewusstsein die Wirklichkeit ändern zu wollen." Ich glaube, dass er damit recht hatte und dass es manche in der Vergangenheit damit übertrieben haben. Es ist dieser missionierende Ton in Teilen unserer Branche, den viele Leser mittlerweile satthaben und der sie zunehmend misstrauisch macht.
Es ist offensichtlich, dass der Leser oder Zuschauer heute mehr informiert und weniger bevormundet oder bekehrt werden will. Er will sauber recherchierte Fakten und intelligente Analysen an die Hand. Brainwashing oder weltfremdes Besserwissertum lehnt er ab. Deshalb ist es wichtig, dass wir Journalisten uns mehr von gesicherten Tatsachen und weniger von persönlichen Weltbildern leiten lassen. Das heißt nicht, dass Journalisten auf Werte und Ideale verzichten müssen. Aber der höchste journalistische Wert sollte die ungeschminkte Wahrheit sein. Egal wen oder wie sehr sie schmerzt. Egon Erwin Kisch hat es einmal so formuliert: "Nichts ist erregender als die Wahrheit." Wenn sich Journalisten und ihr Publikum darauf einigen können, ist viel gewonnen. //
Beitrag von Jörg Quoos, Chefredakteur FUNKE Zentralredaktion in Berlin | erschienen in PRINT&more 4/2016