Reporter ohne Grenzen: Krisen, Kriege und Gewalt bedrohen die Pressefreiheit
Neue Krisen und Kriege sowie wiederaufgeflammte Konflikte gefährden die weltweite Pressefreiheit und brachten Journalistinnen und Journalisten seit Anfang 2021 in vielen Ländern der Welt in Gefahr. Die Rangliste der Pressefreiheit 2022 von Reporter ohne Grenzen (RSF) zeigt, dass von gewalttätigen Konflikten nicht nur Gefahr für Leib und Leben von Medienschaffenden ausgeht – sie wurden auch von vielfältigen Repressionen begleitet, mit denen Regierungen die Informationshoheit zu gewinnen versuchen. Die Rangliste der Pressefreiheit vergleicht die Situation für Journalistinnen, Journalisten und Medien in 180 Staaten und Territorien. In ihrer 20. Ausgabe erscheint die Rangliste einmalig zum Welttag der Pressefreiheit, dem 3. Mai 2022, und basiert zudem auf einer neuen Methodik, die den veränderten Medienrealitäten Rechnung trägt.
„Morde und Entführungen, Verhaftungen und körperliche Angriffe sind bloß unterschiedliche Ausprägungen desselben Problems: Regierungen, Interessengruppen und Einzelpersonen wollen Medienschaffende mit Gewalt daran hindern, unabhängig zu berichten. Dieses Phänomen beobachten wir in allen Teilen der Welt, ob in Russland, Myanmar oder Afghanistan – oder selbst in Deutschland, wo die Aggressivität gegenüber Journalistinnen und Journalisten auf ein Rekordhoch gestiegen ist“, sagte RSF-Vorstandssprecher Michael Rediske.
Deutschland: So viel Gewalt gegen Medienschaffende wie noch nie
Die Lage in Deutschland (Rang 16 von 180) hat sich 2021 um drei Plätze (Vorjahr: Rang 13) leicht verschlechtert. Für diese Entwicklung sind drei Gründe zentral: eine Gesetzgebung, die Journalistinnen und Journalisten sowie ihre Quellen gefährdet, abnehmende Medienvielfalt sowie allen voran Gewalt bei Demonstrationen.
Die Zahl der gewaltsamen Angriffe lag mit 80 von RSF verifizierten Fällen so hoch wie noch nie seit Beginn der Dokumentation im Jahr 2013. Bereits im Vorjahr war mit 65 Fällen ein Negativrekord erreicht worden. Die meisten der Angriffe (52 von 80) ereigneten sich bei Protesten des „Querdenken”-Spektrums gegen Corona-Maßnahmen, an denen regelmäßig gewaltbereite Neonazis und extrem rechte Gruppen teilnahmen. Medienschaffende wurden bespuckt, getreten, bewusstlos geschlagen. Betroffene klagten häufig über mangelnde Unterstützung durch die Polizei. Zudem wurden 12 Angriffe der Polizei auf die Presse dokumentiert.
Hinzu kommen eine hohe Dunkelziffer sowie eine Vielzahl nicht einzeln erfasster Fälle, in denen Journalistinnen und Journalisten beleidigt, bedrängt oder bedroht wurden. Vielfach wurden sie an der Ausübung ihrer Tätigkeit gehindert oder ihre Ausrüstung wurde beschädigt. Neu waren 2021 akustische Angriffe mit Fußballfanfaren. Auch jenseits von Versammlungen wurden Medienschaffende 2021 attackiert: zu Hause, im Gerichtssaal, in Fußballstadien.
Auf der Ebene der Gesetzgebung kritisierte RSF den mangelnden Schutz von Journalistinnen und Journalisten sowie ihrer Quellen bei der Cybersicherheitsstrategie der Bundesregierung, da diese eine Ausweitung der Befugnisse für Sicherheitsbehörden vorsieht, ebenso wie die Reform des BND-Gesetzes und den sogenannten Staatstrojaner. 2021 wurde zudem bekannt, dass Deutschland die Spyware Pegasus nutzt. Das Defizit beim Auskunftsrecht von Medien gegenüber Bundesbehörden blieb 2021 weiter bestehen. Auch Klagen gegen kritische Recherchen und Sexismus im Journalismus stellten im vergangenen Jahr weiterhin ein Problem dar.
Sorge bereiten RSF die weiter abnehmende Pressevielfalt bei den Tageszeitungen. Wie in vielen anderen Ländern haben sich wirtschaftliche Probleme der Medien durch die Corona-Krise verstärkt. Nur zwei Länder weltweit (Norwegen und Schweden) zeigten im neu geschaffenen Indikator „wirtschaftliche Rahmenbedingungen“ eine „gute Lage“; in Deutschland war sie (wie auch die Gesamtsituation) „zufriedenstellend“.
Krisen, Kriege und Gewalt bestimmen weltweit die Lage der Pressefreiheit
Krisen, Kriege und Gewalt bestimmten die Lage der weltweiten Pressefreiheit seit Anfang 2021. Nach dem Militärputsch in Myanmar (Rang 176) und der Rückeroberung Afghanistans (156) durch die Taliban ist unabhängiger Journalismus in beiden Ländern kaum noch möglich. Russland (155) hat nach dem Überfall auf die Ukraine die Pressefreiheit im eigenen Land de facto abgeschafft, in der Ukraine (106) starben durch die Kriegshandlungen innerhalb weniger Wochen sieben Medienschaffende.
Gleich viele waren es nur in Mexiko (127) – das nordamerikanische Land ist schon seit Jahren eins der tödlichsten der Welt für Journalistinnen und Journalisten, doch die Mordserie seit Anfang des Jahres ist auch für mexikanische Verhältnisse erschütternd. Auch im Verlauf des Israel-Gaza-Konflikts wurden in den Palästinensischen Gebieten (170) Journalisten getötet und verletzt, ebenso im Jemen (169). In der Sahelzone haben Medienschaffende unter Unsicherheit und politischer Instabilität zu leiden, so in Burkina Faso (41) und Mali (111).
In Europa erschütterten die Morde an zwei Polizeireportern in den Niederlanden (28) und Griechenland (108) die Öffentlichkeit. Gewalttätige Demonstrierende griffen in großer Zahl Journalistinnen und Journalisten vor allem in Deutschland, aber auch in Österreich (31), Frankreich (26) und Italien (58) an.
In anderen Ländern waren vor allem willkürliche Inhaftierungen das gewählte Mittel zur Unterdrückung kritischer Stimmen. Ende 2021 zählte RSF so viele inhaftierte Journalistinnen und Journalisten wie noch nie. In Hongkong (148), einst eine Bastion der Pressefreiheit in Ostasien, wird Chinas (175) Modell der Informationskontrolle unbarmherzig umgesetzt, werden Redaktionen geschlossen und Medienschaffende verhaftet. In Belarus (153) setzte sich 2021 die Verhaftungswelle fort, die nach der manipulierten Präsidentenwahl vom August 2020 begonnen hatte, und auch im Iran (178) häuften sich die Verhaftungen.
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