'Am Kiosk' mit Ingrid Rose: „Ohne Mord nix los“
Wenn Gäste zum ersten Mal bei mir zu Hause sind und durch mein Bücherregal stöbern, kann es schon mal zu verstörten Blicken und der natürlich nicht ganz ernst gemeinten Frage kommen, ob sie sich Sorgen um ihre Sicherheit machen müssten. Denn während bei ihnen – zumindest angeblich – in erster Linie literarische Klassiker, Biografien oder andere Meisterwerke zu finden sind, ist in meinem Bücherregal ohne Mord nix los. Auch meinen letzten Liebesroman habe ich mit ca. 20 gelesen. Wahrscheinlich langweilten mich die Happy Ends irgendwann so sehr, dass ich eine merkwürdige „Leidenschaft“ für Mörder und Serienkiller entwickelte. Zumindest literarisch. Begegnen möchte ich im echten Leben natürlich bitte keinem einzigen.
Wahrscheinlich ist „stern Crime“ deshalb für mich – neben den Zeitschriften, für die ich selbst arbeite – mein absolutes Lieblingsmagazin. So skurril es auch klingen mag: „stern Crime“ entspannt mich. Vielleicht, weil es mich in Welten entführt, die meiner beruflichen und privaten Realität glücklicherweise total fremd sind. Ich liebe die Themenmischung und werde nie müde davon, alte, spannende und vor allem wahre Kriminalfälle erneut zu lesen. Mitunter fühle ich mich wie hautnah dabei, als eine Art stille Beobachterin, die die Reporter und Autoren auf ihren Recherchereisen in die Vergangenheit, an Tatorte, in die Gerichtsmedizin oder manchmal sogar in Gefängnisse begleiten darf.
Mich faszinieren nicht die fürchterlichen Taten selbst, sondern die Menschen und die Geschichten, die dahinterstecken. Wie und warum alles so weit kommen konnte. Ob schlimme Kindheiten, schwierige Lebensverhältnisse, psychische Erkrankungen oder manchmal auch nur skrupellose kriminelle Energie die Menschen zu Tätern werden lässt. Und ebenso schwierige Umstände oder tragische Zufälle, die andere leider zu Opfern machen. Oft gibt es Muster, manchmal aber auch Taten, für die man nie eine Erklärung finden wird. Und erst recht keine Aufklärung. All das beschreibt die Redaktion von „stern Crime“ so neutral, sensibel und detailgetreu wie möglich. Ohne dabei zu werten oder zu viel zu spekulieren.
Headlines und Texte sind nicht reißerisch, sondern unaufgeregt, aber sprachlich auf hohem Niveau. Sie holen mich emotional meist schon zu Beginn der Geschichte ab. Die Fotos und Illustrationen sind einprägend, aber nie zu grausam oder zu blutig und immer mit dem nötigen Respekt vor den Opfern und ihren Angehörigen ausgewählt. Ich mag die Klarheit der Layouts, der großen Reportagen und Texte, bei denen kein verspieltes Detail von der Story ablenkt, sondern sie gestalterisch einfach nur eindrucksvoll unterstützt. Interviews mit Schriftstellern, Ermittlern, Psychologen oder Fotografen, die am Tatort waren, runden die langen Lesestücke ab. „stern Crime“ ist eines der wenigen Magazine, in denen ich jede Zeile, jede Bildunterschrift und jeden Leserbrief lese. Und ich kann mich nicht daran erinnern, schon mal von einer einzigen Ausgabe enttäuscht worden zu sein.
Morgen (Anm. d. R.: 6. Juni 2020) erscheint die neue „stern Crime“ und ich weiß jetzt schon, wie ich diesen wohl verregneten Samstagnachmittag verbringen werde. Nach dem Gang zu meinem netten Zeitschriftenhändler, der mir wie immer schon ein Exemplar zurückgelegt haben wird, werde ich mein iPhone ausschalten und ein paar Stunden in die Welt des Verbrechens eintauchen. Und mich dabei ganz sicher und wohlbehütet auf meiner Couch vor mich hin gruseln. Oder in der Badewanne. Deshalb muss es für mich auch immer die Printausgabe sein. Seit 2015 habe ich nur eine einzige Ausgabe von „stern Crime“ verpasst – der Rest liegt gestapelt im Bücherregal neben Thrillern und anderen Krimis. Und die Gäste kommen trotzdem weiterhin zu Besuch. Beim zweiten Mal dann auch ganz ohne Angst.
erschienen in PRINT&more 2/2020