Die Entdeckung der Langsamkeit
Mit der Verwandtschaft ist es ja so eine Sache. Man mag sie, oder Teile von ihr, oder eben nicht. Da gibt es den von gemütlicher Körperfülle umrundeten Opa mit antiquierten Ansichten, mit dem man abends beim Bier versackt. Da gibt es die zu dünne zu laute Tante im zu engen Kleid mit zu blonden Haaren, der man kaum länger als zwei Minuten zuhören kann, weil einen nach kurzer Beschallung ein unangenehmer Tinnitus heimsucht. Da gibt es aber auch den ungekämmten Cousin zweiten Grades, der am Tisch nie vor Kopf sitzt und am liebsten gar nicht auffällt. Ihn umgibt eine merkwürdig selbstverständliche, stille Entspanntheit. Erziehen oder gar ändern will er einen nicht. Das wäre ja anmaßend. Er ist einfach da und (ge)hört (da)zu. Diese Art von Verwandtschaft war mir persönlich immer die liebste.
Ins Englische übersetzt bedeutet Verwandtschaft übrigens kinfolk. Kinfolk heißt auch ein Magazin, das nichts von der Tante, wenig vom Onkel und noch am meisten vom erwähnten Cousin hat. Die Themen drehen sich um Design, Mode, Kunst, aber auch um das Zelebrieren einer kalkulierten Langsamkeit, von Kultiviertheit im Allgemeinen, ob zuhause oder im Büro. Im Münchner Bahnhofskiosk, wo ich dem Magazin vor einigen Jahren zum ersten Mal begegnete, ist es weit hinten, unten, versteckt. Damals blickte mir vom Kinfolk-Cover eine zart-brünette junge Frau mit zurückgenommenem Haar entgegen, in schwarzem Rollkragenpulli und ecru-farbenem Regenmantel, einen kastigen Lederrucksack auf dem Rücken. Ein bisschen retro und dabei hochmodern wirkte das, was ich gerade sah. In seiner Klarheit und Schlichtheit schien mir der Titel in dem schier unüberschaubaren Wust greller Slogans und knalliger Fotos auf den Modemagazinen aus den USA und Großbritannien wohltuend und geradezu trotzig zurückhaltend, so als wollte er sagen: Schreit nicht so, es ist die Aufregung doch sowieso nicht wert.
In dem Bestreben, sich abzugrenzen – die besondere Kinfolk-Bildsprache ist mittlerweile legendär – , hat das Magazin rein gar nichts Zwanghaftes. Wie selbstverständlich zelebriert es optisch wie inhaltlich und sprachlich eine Zartheit in der Annährung an seine Themen, die vielen anderen journalistischen, neudeutsch, „Contents“ und ihren blattmacherisch grobklotzigen Endergebnissen abhanden gekommen ist. Chefredakteur Nathan Williams, der das Magazin gemeinsam mit Freunden 2011 gegründet hat, beschreibt es in einem Interview als stillen, friedvollen Ort, quasi als Refugium für die Leser. Das ist es.
Banal ist Kinfolk bei aller Tempoarmut allerdings niemals. Die Beiträge sind interessant und anders gedreht, die Texte sprachlich wie inhaltlich dicht. Überfrachten ist keine Option, stattdessen kommt jede Seite mit wenigen wohlgesetzten Gestaltungselementen aus, die das Auge zur Entspannung einladen. Verschiedene Papier-Grammaturen dienen als haptisches Leitsystem durch das Magazin. Und der Duft ... Schon das Aufschlagen ist ein Erlebnis. Und während ich blättere und mein Blick auf den Seiten ruht, lehne ich mich zurück und denke: Schreit nicht so, es ist die Aufregung doch sowieso nicht wert.
In der PRINT&more-Rubrik "Am Kiosk" stellt in jeder Ausgabe ein Chefredakteur seinen Lieblingstitel vor - alles ist erlaubt, außer den eigenen zu präsentieren.