Communicatio Socialis | Stephan Scherzer: „Aktuell erleben wir einen perfekten Sturm“
Im Frühjahr 2022 trat der Medienverband der freien Presse (MVFP) an die Stelle des VDZ (Verband Deutscher Zeitschriftenverleger). Der Verband vertritt über 350 Verlage. Im Interview spricht Hauptgeschäftsführer Stephan Scherzer über die besonderen Herausforderungen und die langfristige Perspektive für die zahlreichen Neugründungen der letzten Jahre. Scherzer sieht vor allem im Kontext der Special-Interest-Angebote ein hohes Maß an Kreativität und Innovationsbereitschaft, was wiederum zu hoher Identifikation mit dem Publikum führe. Seiner Ansicht nach bestehen große Chancen im Bereich der digitalen Erlöse, gleichzeitig warnt der Medienmanager aber auch vor massiven Kostenexplosionen in Druck und Vertrieb, die ohne gezielte Förderung zur Gefahr für die Medienvielfalt geraten könnten.
Communicatio Socialis | Herr Scherzer, Sie sind als Hauptgeschäftsführer des MVFP tätig. Welche Rolle spielen denn Special-Interest-Publikationen für den Verband und die Medienbranche allgemein?
Stephan Scherzer | Deutschland ist Leseland – insgesamt gibt es über 7000 Zeitschriftenmedienmarken bei uns – der MVFP vertritt über 350 Verlage. Gerade Special-Interest-Zeitschriften sind der vitale Ausdruck der Kreativität, des Gestaltungswillens, der Innnovationskraft der Redaktionen und Vielfalt in der Zeitschriftenbranche. Sie sind Zeitschriften für das Leben und die Freizeit der Menschen und bedienen alle Interessensbereiche der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Leserinnen und Leser schätzen diese besonderen, redaktionellen Inhalte sehr, und diese Wertschätzung schlägt sich auch im Copypreis nieder. So liegt beispielsweise der Durchschnittspreis im Segment Hobby und Kultur pro Heft bei über 7,50 Euro, im Segment Mode bei rund sechs Euro. Und für die werbungtreibenden Unternehmen bieten sie auf allen Medienkanälen klar abgegrenzte Themenfelder und spannende Zielgruppen.
Trotz schwieriger Umstände für den Printmarkt sind auch in den vergangenen Jahren zahlreiche neue Titel erschienen. Sind die Verlage im Bereich Special Interest besonders risikofreudig oder woran machen Sie das fest?
Die im Vergleich mit anderen Gattungen größere Risikobereitschaft der Special-Interest-Verlage basiert auf einem gut planbaren, selbst in Krisen relativ stabilem Geschäftsmodell und vor allem auf der großen Lesertreue. Die Special-Interest Zeitschrift begleitet Menschen häufig über längere Lebensphasen und dies besonders in herausfordernden Zeiten, wie gerade die Corona-Pandemie gezeigt hat. Insbesondere bei diesem Zeitschriftentyp ergänzen sich Informationstiefe und -breite mit einer ausgewiesenen Unterhaltungsfunktion und sehr großem Interesse der Zielgruppen am jeweiligen Thema ideal. Die Themenvielfalt, Informationstiefe, Wissensbreite und Meinungsstärke der Zeitschriftenmedien sind unabdingbarer Teil unserer demokratischen Gesellschaft. Insbesondere in Zeiten sich schnell ändernder Nachrichtenlagen, von Fake News und Propaganda sowie politischer Umwälzungen und ungewisser Entwicklungen sind es die Redaktionen der Verlage, Journalistinnen und Journalisten, die – gerade auch vor Ort – recherchieren, sachlich informieren, Fakten prüfen, aber auch kommentieren, einordnen und hinterfragen. Gegen „Fake News“ helfen vor allem „Unfaked News“ der Redaktionen, getragen von unabhängigen Verlagen.
Können Sie im Kontext der Special-Interest-Publikationen einen besonderen thematischen Trend erkennen, also ein Bereich, der besonders stark boomt?
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, zuvor eine generelle Abgrenzung zwischen Special-Interest- und den Fachzeitschriften zu treffen: Fachmedien wenden sich insbesondere in einem beruflichen Kontext mit einem klar eingegrenzten Fachgebiet an entsprechend interessierte Leserinnen und Leser, während bei Special-Interest-Zeitschriften diese eindeutige fachliche Prägung nicht vorhanden ist. Special-Interest-Titel orientieren sich vor allem an Trends, Leidenschaften und Dingen, die die Menschen emotional in unterschiedlichsten Lebensbereichen begeistern und erreichen. Gerade Marken, die sich mit Lean-Back, Selbstoptimierung und Lebensfreude befassen, aber auch Land-Lifestyle-Magazine oder Oldtimer- sowie E-Bike-Publikationen konnten in den Jahren der Pandemie richtig punkten. Generell sind die Themen Nachhaltigkeit, gesundes Leben wie auch Umwelt und Natur wichtige Felder, die auch in unserem Medienverband einen großen Raum in den Gremien haben.
Aus Ihrer Erfahrung: Wie unterscheiden sich denn die Erlösmodelle bzw. Einnahmenstrukturen von Special Interest im Vergleich zu anderen Titeln? Welche Daten liegen Ihnen hierzu vor?
Special-Interest-Zeitschriften können sich seit jeher auf die enge Bindung der Leserschaft mit ihrem Magazin verlassen. Das zahlt sich in einer überdurchschnittlich hohen Abo-Auflage mit einem Anteil von 60 Prozent und mehr aus und sichert damit die Refinanzierung von Redaktion und Verlag zu wesentlichen Anteilen. Dies erweist sich gerade in Krisenzeiten wie diesen, mit reduzierten Werbebudgets auf der einen und den exorbitanten Preissteigerungen bei Energie, Papier und Logistik auf der anderen Seite, als existenzsichernd. Aber trotz dieser bislang bewiesenen Krisen-Resilienz der Branche, gerade in Zeiten der digitalen Transformation, sind Redaktionen und Verlage durch die enorm gestiegenen Kosten und die Auswirkungen der Krise auf das Einkaufsverhalten für viele Titel extrem herausgefordert.
Stichwort digitale Weiterentwicklung: Können Sie uns Positiv-Beispiele von Special-Interest-Titeln nennen, die bei ihren digitalen Angeboten besonders erfolgreich arbeiten?
Rund um die einer breiten Öffentlichkeit bekannten Medienmarken im Special-Interest-Segment sind vielfach ganze
Produktfamilien mit redaktionellen Paid-Content-Angeboten, Merchandising und E-Commerce entstanden, die digital erfolgreich im Markt etabliert wurden. Dazu zählen etwa die Wohn- und Lifestylemagazine mit ihren Farben-, Textil- und
Möbelkollektionen oder Titel im Food-Segment mit einer breiten Range an Genusspaketen und Events. Redaktioneller Inhalt wird mobil über Tablets und Smartphones von einer stetig steigenden Nutzerschaft als E-Paper genutzt, auf Apps abgerufen oder in Podcasts gehört. Nach einer MVFP-Prognose werden Publikumszeitschriften 2022 insgesamt rund 400 Millionen Euro Paid-Content-Umsatz erwirtschaften und damit sehr relevante und weiter wachsende Umsätze erzielen. Die Fachmedienhäuser erzielen insgesamt schon über eine Milliarde Euro Umsatz mit Paid Content – vor allem Segmente wie Wirtschaft, Recht und Steuern sind sehr erfolgreich. Die Verlage verstehen sich als 360-Grad-Medienhäuser, die jeden noch so kleinen Winkel unserer Welt – der Leserinnen und Leser interessiert – ausleuchten.
Wo und wie steht der MVFP in Kontakt mit diesen Verlagen, bzw. welche Kooperationsformen bestehen denn?
Der Medienverband der freien Presse vertritt die publizistischen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Interessen von über 350 Mitgliedsverlagen im politischen Berlin und in der EU – in einer Branche mit mehr als 7000 Medienangeboten; über 9000 Journalistinnen und Journalisten arbeiten für die Zeitschriftenpresse in Deutschland. Der MVFP setzt sich für den Fortbestand der freien Presse, die Freiheit und Vielfalt der Meinungen und die Zukunft des marktwirtschaftlich finanzierten Journalismus als Garant für die freiheitlich demokratische Grundordnung ein. Unsere
Mitglieder unterstützen wir mit einem breiten Service-, Beratungs- und Bildungsangebot zu anspruchsvollen Fragestellungen bei der Veränderung der Märkte und der Digitalisierung bis hin zur Ausstellung von Presseausweisen oder
der Behandlung steuerlicher Fragen. Gegenüber der Politik setzen wir uns für ordnungspolitische faire Rahmen- und Wettbewerbsbedingungen ein. Um die verbandsinterne Willensbildung demokratisch zu organisieren und die Interessen aller Mitglieder bestmöglich vertreten zu können, hat der MVFP fünf Landesvertretungen für die Regionen Bayern, Berlin-Brandenburg, Nord, Nordrhein-Westfalen und Südwesten mit regionalen Aktivitäten. Die spezifischen Interessen der Gattungen Fachmedien, konfessionelle Medien und Publikumsmedien sind über unsere drei Fachvertretungen organisiert.
Wo sehen Sie die zentralen Herausforderungen und Perspektiven für Special Interest in den nächsten Jahren?
Im Moment stehen alle Zeitschriftenverlage entlang ihrer Wertschöpfungskette und ihren Kostenstrukturen massiv unter Druck. Da ist die im Koalitionsvertrag festgeschriebene Verpflichtung, die flächendeckende Versorgung mit periodischen
Presse-Erzeugnissen zu gewährleisten, ein zentrales Thema. Eine schnell realisierte, diskriminierungsfreie Förderung der
Zeitschriften und Zeitungen ist jetzt erforderlich, um gleichzeitig die digitale Transformation und die extreme Kostenexplosion meistern zu können. In den vergangenen Jahren haben die Verlage die Kosten der digitalen Transformation selbst stemmen können und auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie gemeistert. Nun sehen sie sich aber mit den seit Anfang dieses Jahres extrem gestiegenen Papierpreisen, explodierenden Energiekosten und massiv steigenden Zustellkosten konfrontiert, die existenzgefährdende Ausmaße angenommen haben und die Erfolge der digitalen Transformation gefährden. Die Resilienz der Familienunternehmen, die hinter praktisch allen Verlagen in Deutschland stehen, ist beachtlich und hat sich in vielen Krisen der vergangenen Jahrzehnte gezeigt. Es gibt in Deutschland über 5600 Fach- und 1300 Publikumsmedien sowie rund 100 konfessionelle Titel – viele dieser Häuser sind seit über 100 Jahren publizistisch und unternehmerisch erfolgreich am Markt und haben alle Innovationssprünge der letzten Dekaden erfolgreich gemeistert. Aktuell erleben wir in Deutschland und Europa aber einen perfekten Sturm, wie ihn die Branche noch nie erlebt hat. Der MVFP setzt sich mit aller Kraft für die Verlage in dieser Krisenzeit ein: in Berlin, Brüssel und den Bundesländern als Verband vor Ort.
Gestatten Sie uns eine persönliche Abschlussfrage: Welche Special-Interest Titel lesen Sie selbst gern bzw. finden Sie besonders erfolgsversprechend?
Emotionen, Leidenschaft, Sehnsüchte und Begeisterung für ein Feld bringt Menschen zum Lesen. Als begeisterter Bergsteiger lese ich alles rund um den Alpinismus: Tourentipps, Ratgeber und vor allem gut geschriebene Fotoreportagen. Ich nutze die Tourenbeschreibungen online, höre Podcasts zu dieser Themenwelt und sammle die Magazine. Ich gehe auch auf Veranstaltungen und Messen, die von Verlagen im Special-Interest Bereich veranstaltet werden. Ich verhalte mich also wie ein ganz normaler Special-Interest-Leser – alles zum Thema, auf allen Kanälen.