Leser, NGOs, Faktenprüfer, Plattformen oder Behörden: Wer soll über die Sichtbarkeit von Presse im Netz entscheiden?
Leser, NGOs, Faktenprüfer, Plattformen oder Behörden: Wer soll über die Sichtbarkeit von Presse im Netz entscheiden?
Diskriminierungsfreies Ranking nach Leistungsdaten oder politisch bewertete Sicht- und Unsichtbarkeit digitaler Presse.
Medien sind für ihre Verbreitung zunehmend auf mächtige Digitalplattformen angewiesen. Das Quasimonopol der Internetsuche, das quasimonopolistische allgemeine soziale Netzwerk, die beiden mobilen Betriebssysteme zählen dazu. Diese Plattformen werden mit gutem Grund auch »Torwächterplattformen« genannt, entscheiden sie doch nach Belieben darüber, ob und wie viel Zugang Publikationen zum jeweiligen Lesermarkt erhalten. Diese Macht will die EU-Kommission durch verschiedene Vorhaben zügeln.
Wer aber sollte die Zügel in die Hand nehmen? Die Leser? Journalistische NGOs? Faktenprüfer? Doch die Plattformen selbst? Oder staatliche bzw. europäische Stellen in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit NGOs oder den Plattformen?
Verpflichtung der Torwächter zu diskriminierungsfreier Vermittlung aller legalen Publikationen
Deutsche und europäische Presseverlegerverbände fordern von der EU ein Recht aller legalen Publikationen auf diskriminierungsfreien und fairen Zugang zu Torwächterplattformen. Sollte sich die EU mit dem Digital Markets Act dieser Aufgabe stellen, würden Ungleichbehandlungen unzulässig, wie etwa die Bevorzugung eigener oder fremder Titel in Ranking, Darstellung oder Entgelt. Unzulässig wären dann aber auch sonstige inhaltlich unfaire Bedingungen, die gleichermaßen für alle Titel gelten. Das gilt etwa für die Einforderung einer Gratislizenz als Bedingung für eine Vermittlungsleistung oder für die Monopolisierung geschäftsrelevanter Daten. Immer ist eine hinreichend ausgestattete Behörde erforderlich, die den Megaplattformen konkrete Maßnahmen auferlegen kann.
Im Folgenden geht es um den ersten Punkt: Wird die Sichtbarkeit am Lesermarkt anhand diskriminierungsfrei verwendeter Leistungs- und Relevanzdaten bestimmt, gibt es publizistischen und ökonomischen Wettbewerb. So, wie man es im Grundsatz von anderen zu Diskriminierungsfreiheit verpflichteten Vertriebskanälen her kennt. Letztlich entscheiden in erster Linie die Leser und die redaktionellen Inhalte über den Erfolg einer Publikation, nicht hingegen die Willkür der Plattform oder Bewertungen der Redaktionen durch Dritte. Aus dem Wettbewerb um die Gunst der Leser scheiden nur rechtswidrige Inhalte aus, deren Verbreitung mit den üblichen rechtsstaatlichen Verfahren oder infolge der Verantwortlichkeit des Verbreiters unterbunden wird.
Redaktionsbewertungen durch journalistische Nichtregierungsorganisationen als Sichtbarkeitsmaßstab?
Das Gegenteil diskriminierungsfreier Vermittlung ist die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit in Abhängigkeit von einer Bewertung der Redaktionen. Vorhaben wie etwa die Journalism Trust Initiative (JTI) erfreuen sich in Teilen der Brüsseler Politik großer Beliebtheit. Gern wird darauf verwiesen, dass ja nicht die redaktionellen Inhalte selbst, sondern nur eine Vielzahl qualitätsrelevanter Kriterien wie die Existenz redaktioneller Leitlinien, Unterstützung der Journalisten durch den Verlag, Diversitätspolitik, Offenlegung der Einnahmequellen, Einrichtung redaktioneller Strukturen zur schnellen und transparenten Korrektur von Ungenauigkeiten, externe Aufsicht in Form von Presseräten oder Ombudsmann, Einrichten interner Prozesse zur Gewährleistung der Genauigkeit, ethische Behandlung von gewalttätigen oder expliziten Inhalten, Richtlinien für Meinungs- und Kommentarstücke von Lesern etc. eine Rolle spielen sollen. Verlage stellen sich den Qualitätstests der NGOs; diese machen eine Liste mit vertrauenswürdigen Medien. Und Monopolplattformen verwenden diese Liste, um darüber zu entscheiden, welche Publikationen die Menschen zu Gesicht bekommen und welche nicht. Eine gute Idee? Wird sie evtl. noch besser, wenn auch Werbungtreibende Budgets nur bei JTI-konformen Medien platzieren?
Die Inhalte konkreter Artikel bewerten Faktenprüfer. Sie überprüfen als Tatsachenbehauptung eingestufte redaktionelle Aussagen in ausgewählten Beiträgen auf ihre Richtigkeit hin. Ihr Urteil kann zur vollständigen oder weitgehenden Unsichtbarkeit führen, zunächst des Artikels, z. B. im Wiederholungsfall aber natürlich auch der Publikation. Wenn es denn die Plattform so möchte, sei es mit oder ohne Aufforderung oder Unterstützung durch hoheitliche Stellen. Ist das ein guter Weg, um dem Leser die Mühe abzunehmen, die Spreu vom Weizen zu trennen?
Allgemeine Geschäftsbedingungen der Torwächterplattformen als Grenze der Sichtbarkeit?
Die Torwächter können eigene Vorstellungen über erwünschte und unerwünschte Inhalte zu Grenzen der Pressefreiheit machen. Dann werden rechtmäßige Artikel auch dann unterbunden, wenn sie nach den Wertvorstellungen des Plattformbetreibers unsittlich, unangemessen oder schädlich sind. Die Sperrung rechtmäßiger Nacktbilder auf Titelseiten skandinavischer Presse oder die Sperrung ikonografischer Bilder der Zeitgeschichte illustrieren das. Was bei einer Vielzahl konkurrierender Plattformen legitim erscheint, die inhaltliche Filterung des Plattformzugangs nach Wahl der Plattform, wird bei Torwächterplattformen, die selbst ein Teil der demokratischen Öffentlichkeit sind, schnell zu einem Albtraum freier oder demokratischer Gesellschaften: Die Verbreitung rechtmäßiger Meinungsäußerungen hängt von der Willkür privater Betreiber der Kommunikationsinfrastruktur ab. Soll das in Westeuropa zunehmend Realität werden?
EU-Kommission oder Regierungen als gute Freunde von Torwächterplattformen, NGOs und Faktenprüfern?
Die EU-Kommission oder nationale Behörden müssen die Steuerung der Plattformsichtbarkeit privater Presse nicht in die eigene Hand überführen. Ein informeller Austausch der Regierungsstellen mit Torwächtern, Fakten- oder Redaktionsprüfern ist in gewisser Hinsicht sogar effektiver und eleganter. Denn während eine staatliche Regulierung jedenfalls unter dem Grundgesetz kaum in der Lage wäre, innerhalb der rechtmäßigen Veröffentlichungen bestimmte Inhalte sichtbarer oder unsichtbarer zu machen, kann auf informellem Wege auch die Unsichtbarkeit rechtmäßiger, aus Sicht der Behörde schädlicher Presse befördert werden. Regierungen könnten sogar auf Ideen verfallen, die man bislang eher Parteidiktaturen zutraut. Warum nur unerwünschte Presse unsichtbar machen, wenn man doch gleich Regierungspresse auf den besten Plätzen verbreiten kann und dann gleich jede private Presse verdrängt?
Pressefreiheit auf Plattformmonopolen nach Maßgabe allgemeiner Gesetze oder allgemeiner Geschäftsbedingungen und Vertrauenssiegel? Die Aufklärung weist den Weg
Dass nicht beides auf einmal geht, diskriminierungsfreie Verbreitung aller legalen Publikationen anhand des Leserurteils und zugleich politisch bewertete Sichtbarkeit anhand des Urteils von AGB, NGOs und Faktenprüfern, erscheint offenkundig. Wie aber soll sich Europa entscheiden?
Meinungs- und Pressefreiheit, aber auch Demokratie können als Fortsetzung oder Folge der Aufklärung verstanden werden. Im Zentrum steht der Mensch als Individuum, dazu berufen, sich aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Dann kann und muss jeder Mensch lebenslang seinen eigenen Verstand bemühen, um zwischen Gut und Böse und zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.
Dann hat aber auch kein König und kein Geistlicher, keine Regierung und keine supranationale Instanz das Recht, für die Menschen zu entscheiden, was sie lesen, hören oder sehen sollen und was sie sagen, schreiben oder verfilmen wollen. Die dennoch nötigen Grenzen zulässiger Äußerungsinhalte setzen nur noch allgemeine Gesetze zum Schutz spezifischer Rechtsgüter in der Interpretation unabhängiger Gerichte. Dabei müssen diese die Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetze ihrerseits die Bedeutung der Meinungsfreiheit beachten, können sie also keinesfalls beliebig beschneiden. Geschützt wird so z. B. das Persönlichkeitsrecht auch gegen ehrenrührige falsche Behauptungen, nie aber die schlichte Wahrheit als solche.
Es ist die womöglich wichtigste Freiheit demokratischer Gesellschaften, dass ein jeder, Laie wie Journalist, alles sagen, schreiben und verbreiten darf, was nicht allgemeine Gesetze in der Interpretation durch unabhängige Gerichte verbieten. Allein die öffentliche Meinungsbildung entscheidet, welche der so geäußerten Themen, Meinungen, Berichte etc. als relevant oder irrelevant, richtig oder falsch, gut oder böse, nützlich oder schädlich, Information oder Desinformation zu gelten haben. Das gilt gerade und insbesondere auch für Falschnachrichten und sogenannte Desinformation, soweit diese durch legale Kommunikation verbreitet werden. Das einzig legitime und wirkungsvolle Mittel gegen falsche und irreführende Information ist ein Mehr an wahren und sorgfältigen Informationen. Dass diejenigen, die Unsinn glauben und erzählen, infolge der sozialen Medien nun auch in der Öffentlichkeit sichtbarer sind als früher, ist für den, der glaubte, solche Meinungen gebe es nicht, enttäuschend und ärgerlich, ändert daran aber nichts. Es ist der öffentliche Meinungsstreit, der innerhalb des Rahmens der legalen Kommunikation die Gesellschaft über existierende Auffassungen und politische Absichten informiert und so jedem einzelnen Bürger die Bildung einer eigenen Meinung ermöglicht, die er in der Wahl von Parlamenten zum Ausdruck bringen kann.
Ob solche Überlegungen eine Chance haben, sich im Brüsseler Politikzirkus durchzusetzen? Jeder Zweifel erscheint berechtigt. Verlässliche Quellen belegen die Ansicht von Kommissionsstellen, man könne ein Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Monopolplattformen schwerlich einräumen, da man ja andererseits die Entfernung schädlicher Veröffentlichungen nach Maßgabe der allgemeinen Geschäftsbedingungen der Monopole unterstütze.
Sichtbarkeit von Presse im Netz
// Beitrag von Prof.Dr. Christoph Fiedler, VDZ-Geschäftsführer Europa- und Medienpolitik, Chairman Legal Affairs EMMA (European Magazine Media Association)