„Der Staat hat faire Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten.“
MVFP impuls | Herr Prof. Di Fabio, Sie haben in Ihrer Rede beim Medienkongress der freien Presse die Fragmentierung des öffentlichen Meinungsraums angesprochen. Welche Hauptfaktoren tragen Ihrer Meinung nach zu dieser Zersplitterung bei, und welche Rolle spielt dabei die freie Presse?
Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio | Unter Fragmentierung verstehe ich die Abschottung in Meinungsblasen – ein Phänomen, das im digitalen Raum durch Algorithmen verstärkt wird, die gezielt Nutzerinteressen bedienen und die Bildung sozialer Gruppen nach Gesinnungsübereinstimmungen erleichtern. Das unterscheidet sich von der traditionellen Presse, die zwar auch fraktioniert ist – unterschiedliche Zeitungen und Zeitschriften vertreten spezifische politische Richtungen –, jedoch keine Abschottung, sondern Kontroversen bewirkt. Die einen lesen die „Süddeutsche“, die anderen die „Welt“ und kommen letztlich zu unterschiedlichen Weltsichten. Dieser Pluralismus förderte eine Vielfalt an Meinungen, ohne radikale Glaubenssätze zu verstärken.
Ein Blick in die Pressegeschichte zeigt, dass Fragmentierung aber auch bereits ohne Internet existierte. Am Ende der Weimarer Republik führte die stark aufgesplitterte Medienlandschaft, mit Zeitungen, die teils viermal täglich erschienen, zu gesellschaftlicher Radikalisierung. Heute neigen wir dazu, die Vergangenheit als stabilere Zeit zu idealisieren, vor allem die großen Jahrzehnte der Bundesrepublik mit ihrer „gepflegten“ Presselandschaft und dem monopolistisch geprägten öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das Internet hat die Fragmentierung zwar verstärkt, ist aber keineswegs allein dafür verantwortlich.
Im US-Wahlkampf zeigte ein Experiment von ZEIT ONLINE-Redakteurinnen und -Redakteuren mit zwei Handys – eines für Demokraten, das andere für Republikaner – den Eindruck völlig getrennter Welten ...
Es entstehen tatsächlich zwei völlig unterschiedliche Welten – nicht nur in der Interpretation, sondern auch in der Darstellung und Gewichtung von Tatsachen. Dieser Effekt ist jedoch nicht allein dem Internet zuzuschreiben. Vielmehr hängt er mit der Individualisierung unserer Gesellschaft und der schwindenden Kraft gemeinsamer Bildungsgehalte zusammen: Die Kraft intermediärer Institutionen, also gesellschaftlicher Organisationen zwischen Staat und Bürger, hat spürbar abgenommen.
Früher schufen Milieus wie das katholische oder das sozialdemokratische eine gewisse Ordnung und Bindung. Diese fragmentierte Gesellschaft war Ausdruck eines „Verbändestaates“ und galt als pluralistisch. Heute sind diese Strukturen verblasst und werden zunehmend von der volatilen Stimmungslage einer individualisierten Gesellschaft getrieben. Die Bindungskraft lokaler Gemeinschaften und familiärer Traditionen nimmt ebenfalls ab, was die Gesellschaft in eine – wie ich es nenne – „volatile“ Struktur verwandelt, geprägt von schnell wechselnden Stimmungen. Das spielt möglicherweise eine größere Rolle für die Fragmentierung als das Internet, dem wir allzu oft die Schuld geben.
Sie betonten die Bedeutung der institutionellen Gewährleistung der freien Presse. Welche konkreten Maßnahmen sollten Ihrer Ansicht nach ergriffen werden, um die Pressefreiheit in Deutschland zu stärken?
In Deutschland genießt die Presse umfassende Freiheit, ohne ernsthafte Einschränkungen für Journalistinnen und Journalisten.
Die eigentliche Herausforderung liegt in Deutschland weniger in staatlichen Eingriffen als in infrastrukturellen Sorgen: Die Abonnementzahlen der Presse sinken, während digitale Informationsquellen zunehmend zur Konkurrenz werden. Ein bedeutender Konkurrent ist auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der gebührenfinanziert und damit in einer privilegierten Position agiert, insbesondere wenn er vertextlichte Inhalte in den digitalen Raum bringt. Viele Menschen hinterfragen zunehmend die Notwendigkeit eines teuren Abonnements, da sie Informationen auch über Suchmaschinen finden können.
Daher könnte es sinnvoll sein, dass der Staat die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der freien Presse stärker absichert. Die Freiheit, Pluralität und Professionalität der Presse sind unverzichtbar, damit Demokratie praktisch funktionieren kann.
Die freie Presse steht im ungleichen Wettbewerb mit dem gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Welche Auswirkungen hat deren Dominanz auf die Medienvielfalt, und was braucht es, um fairere Bedingungen für die freie Presse zu schaffen?
Der gebührenfinanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk hat eine eigene Rolle und Funktion in der öffentlichen Meinungsbildung, die konzeptionell klar abgegrenzt ist: Er umfasst Hörfunk und Fernsehen und sollte damit keine Konkurrenz zur Presse darstellen. Doch im digitalen Raum, wo der Rundfunk zunehmend mit text- und bildbasierten Formaten auftritt, verschwimmen die Grenzen, und die Konkurrenz zur freien Presse wird real. Hier wäre es Aufgabe des Staates, limitierend einzugreifen. Es gibt Diskussionen, ob der Staat angesichts der guten finanziellen Ausstattung des Rundfunks die wirtschaftlichen Bedingungen der Presse verbessern müsste – beispielsweise durch Förderungen für Pressezustellungen. Allerdings könnte ein „Gebührentopf“ für die Presse, etwa durch monatliche Beiträge, kontraproduktiv sein. Die Stärke der Presse lag stets in der Verbindung von Markterfolg, dem eigenen Informations- und Medienangebot und selbstbewusster Freiheit. Staatliche Hilfen sollten als äußerstes Mittel betrachtet werden.
Der Medienverband der freien Presse setzt sich ein für die Freiheit und die Unabhängigkeit der marktwirtschaftlich finanzierten freien Presse in Deutschland. Finden Sie, dass dieser privaten Presse in Form von Zeitschriften und Zeitungen eine besondere Bedeutung für die freie Meinungsbildung zukommt? Und sollte mehr für ihren Erhalt getan werden?
Ja, in der Tat: Der freien, marktwirtschaftlich finanzierten Presse kommt eine besondere Bedeutung für die Meinungs- bildung zu. Der Markt selbst hat eine demokratische Funk- tion, die oft übersehen wird: Er basiert auf Freiwilligkeit. Wir schließen Abonnements freiwillig ab, und die Medien müssen sich, ähnlich wie Politiker im Wahlkampf, um unser Interesse bemühen. Solange der Markt offen bleibt und keine Oligopole oder Monopole entstehen, bedarf es keines Eingriffs. Erst dann ist der Markt durch übermächtige Akteure gestört, muss er vom Staat wieder instand gesetzt werden. Wirtschaftliche Freiheit ist eng mit der journalistischen Freiheit verbunden. Es braucht Medien, die sachlich und nüchtern berichten und gleichzeitig attraktiv genug sind, um ihr Publikum erfolgreich anzusprechen – und damit gekauft werden. Qualitätsjournalismus, ob in Zeitungen oder Magazinen, schafft einen eigenen Wert, auch in der digitalen Welt. Die Menschen werden hoffentlich wieder mehr und mehr erkennen, dass professionelle, verlässliche Informationen ihren Preis haben. Wenn sie das nicht mehr wollen, ist es wie in einer Demokratie, in der keine demokratischen Parteien mehr gewählt werden – dann lässt sich Demokratie kaum verteidigen. Für den Erhalt dieses Modells hat der Staat faire Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Wo der freien Presse Konkurrenz durch digitale Plattformen oder den gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk entsteht, ist der Staat gefordert, Verzerrungen zu verhindern und den Zugang zur medialen Meinungsbildung offen und ausgewogen zu halten.
Die Tatsache, dass Journalismus mit dem Zusatz „Qualitätsjournalismus“ – so sagten Sie es beim Medienkongress – aktiv beworben werden müsse, sehen Sie als Zeichen des schwindenden Vertrauens. Welche Maßnahmen wären aus Ihrer Sicht notwendig, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Medien wiederherzustellen?
Ich glaube, wir erleben gerade eine Zeit, in der den Menschen nicht das Vertrauen in seriöse Presseunternehmen verloren geht, sondern vielmehr das Vertrauen in die Solidität des Netzes schwindet. Das bietet dem Journalismus eine echte Chance, besonders wenn es gelingt, im digitalen Raum präsent zu sein und dort ein wirtschaftlich tragfähiges Angebot zu schaffen. Qualitätsjournalismus bedeutet letztlich, dass ausgebildete Journalistinnen und Journalisten in einer Organisation arbeiten, die sich verpflichtet, bestimmte Standards bei der Beschaffung, Ermittlung, Aufbereitung und Wiedergabevon Informationen einzuhalten – sei es im politischen Journalismus, im Unterhaltungsbereich oder im Feuilleton. Ziel ist es, ein Niveau zu erreichen, das verlässliche und fundierte Informationen garantiert. Dieser Anspruch hebt den professionellen Journalismus von der Vielzahl ungeprüfter oder manipulierter Inhalte im Netz ab und schafft Vertrauen. Eine Übergangsphase staatlicher Unterstützung, etwa durch Steuerentlastungen für alle Presseunternehmen, könnte helfen, faire Bedingungen zu schaffen. Das Vertrauen
der Öffentlichkeit in den Wert professioneller Medien muss wieder gestärkt werden, besonders da bei jungen Menschen der Wert geprüfter journalistischer Informationen allmählich wieder ins Bewusstsein tritt. In einer Demokratie ist es nicht nur wichtig, dass jeder seine Meinung frei äußern kann; genauso entscheidend
ist es, dass es Medien gibt, die mit ihren Standards und ihrer redaktionellen Erfahrung eine verlässliche Ordnung bieten. Diese Aufgabe, diesen Unterschied sichtbar zu machen und damit Vertrauen zu gewinnen, ist eine Herausforderung, die gerade jetzt zentrale Bedeutung hat.
Mit Blick auf die auch von Ihnen beobachtete zunehmende Toleranz gegenüber Gewalt: Welche Verantwortung tragen Medien und Gesellschaft gemeinsam, um die Kultur der öffentlichen Debatte zu stärken und die Demokratie zu schützen?
Ich sehe einen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Gewaltbereitschaft in der realen Welt und der Fragmentierung im Netz, die auch ein Klima der Radikalisierung und des Hasses fördert. Das deutsche Strafrecht, etwa durch den Straftatbestand der Volksverhetzung, setzt hier klare Grenzen, wann geschürter Hass gegen Gruppen oder Einzelpersonen strafbar ist. Ich würde mir wünschen, dass diese Gesetze konsequenter angewandt werden, auch im digitalen Raum, um die Ausbreitung von Hasspropaganda, die oft in realer Gewalt mündet, effektiver zu bekämpfen. Dabei geht es nicht darum, neue Einschränkungen der Presse- oder Meinungsfreiheit zu schaffen, sondern bestehende Gesetze wirksam anzuwenden. Dabei dürfen aber nicht im Überschwang von Aktionstagen vermutlich satirisch gemeinte Posts zum Grund für eine Hausdurchsuchung gemacht werden; es geht um die wirklich harten Fälle von Gewaltandrohungen und verletzender Verächtlichmachung der Würde. Die technischen Fragen – wie das Nachverfolgen von IPAdressen und das Löschen rechtswidriger Inhalte – machen deutlich, warum Plattformen reguliert werden müssen. Es gilt jedoch, eine Balance zu finden, damit die Presse- und Meinungsfreiheit nicht unnötig eingeschränkt wird, während offensichtliche Rechtsverletzungen geahndet werden. Presse trägt hier eine besondere Verantwortung. Sie leistet einen wichtigen Beitrag, indem sie Nutzern hilft,
zwischen Tatsachen und Falschnachrichten zu unterscheiden. Diese Ordnungsfunktion gehört seit jeher zur Aufgabe einer freien Presse: durch sachliche Berichterstattung und fundierte Kommentierung Gerüchte und unbelegte Meinungen an den Rand zu drängen. Ich würde mir sehr wünschen – und dafür werbe ich auch im Hörsaal –, dass das gesellschaftliche Bewusstsein für die Bedeutung der freien Presse wieder wächst. Presse zu abonnieren, ist ein wesentlicher Bestandteil einer fundierten Meinungsbildung und akademischen Ausbildung. Diese Bereitschaft muss stärker im Elternhaus und in der Schule gefördert werden, damit Medienbildung als Grundlage einer funktionierenden Demokratie verankert bleibt.
Das Interview führte Antje Jungmann.
Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio war von 1999 bis 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht. Er lehrt als Universitätsprofessor in Bonn und publiziert u.a. als Mitherausgeber der Fachzeitschrift »Archiv des öffentlichen Rechts«.
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