Stephan Scherzer: „Print bleibt ein gut funktionierender Anker“
Herr Scherzer, der Fernsehkonzern RTL trennt sich von einem großen Teil seiner einst bei G+J publizierten Zeitschriften, da sich die Sparte wirtschaftlich kaum noch lohnt. Ist das Magazingeschäft ein Auslaufmodell?
Nein, keineswegs. Deutschland ist weltweit das Zeitschriftenland Nr. 1. Kaum ein Land verfügt über so viele Magazinunternehmen. Allein im Medienverband der freien Presse sind rund 350 Mitgliedsverlage organisiert. Sie verlegen Zeitschriften in unterschiedlicher Frequenz und auf allen Verbreitungswegen. Dass RTL das Zeitschriftengeschäft neu organisiert hat, ist eine unternehmerische Entscheidung. Dies gilt nicht für die gesamte Branche.
Ist die Entscheidung von Bertelsmann-Chef Thomas Rabe aber nicht ein fatales Signal an den Markt? Nach dem Motto: Rette sich, wer kann.
Es ist nachvollziehbar, wenn Magazine, die nicht mehr dauerhaft performen, vom Markt genommen werden. Da ist es verständlich, dass ein Medienhaus eine Zeitschrift aus dem Regal nimmt. Denn auch Verlage sind Wirtschaftsunternehmen, die Gewinne erzielen müssen, um im Wettbewerb bestehen zu können. Wenn aber ein Unternehmen unter Umständen rentable Titel einstellt, ist das für die Branche nur schwer zu begreifen. Man hört aber, dass Bertelsmann hier nachjustiert und möglicherweise an weiteren Zeitschriften festhält.
Bertelsmann hat an die G+J-Marken angeblich sehr hohe Renditeerwartungen gestellt. Sind denn zweistellige Umsatzrenditen notwendig, um journalistische Produkte am Leben zu halten?
In der Verlagsbranche sind höhere Renditen erforderlich als beispielsweise im Einzelhandel. Denn die Medienunternehmen müssen mit ihren Marken gut profitabel sein, um die notwendigen Investitionen für die Transformation und die 360-Grad-Vermarktung ihrer Produkte zu stemmen. Dazu zählen beispielsweise Social Media, Podcasts oder neue Technologien wie KI, um sich im knallharten Wettbewerb zu behaupten. Da springen viele der Diskussion um Renditeerwartungen zu kurz.
RTL ist Mitglied im MVFP und zahlt Verbandsbeiträge, die sich nach dem Umsatz des Zeitschriftengeschäfts richten. Wenn jetzt RTL seine Sparte eindampft, sinkt dann auch das Beitragseinkommen?
In unserer Beitragsordnung haben wir einen Umsatzdeckel festgelegt. Das bedeutet: Ab einer bestimmten Umsatzgröße zahlt ein Verbandsmitglied einen Beitrag, der nicht weiter steigt. Jetzt stellt sich die Frage, ob RTL durch die geplanten Maßnahmen unter diese Schwelle fällt. Das kann ich Ihnen zurzeit nicht sagen.
Als Reaktion auf den Kahlschlag bei G+J schlägt Funke-Verlegerin Julia Becker einen Runden Tisch vor, um Wege zu finden, den unabhängigen Journalismus zu retten. Daran sollen auch Vertreter aller Verbände teilnehmen. Werten Sie dies als Ansage eines Großverlags, dass die Verbände als Plattform für den Branchenaustausch ungeeignet sind?
Nein, damit habe ich kein Problem. Die Funke Mediengruppe ist ein engagiertes Mitglied in unserem Verband. Wenn jetzt das Unternehmen parallel eine eigene Initiative startet, kann dies die Diskussion um die Zukunft eines wirtschaftlich tragfähigen Journalismus nur beleben.
Kommen wir noch einmal zum Magazinmarkt zurück. Mitte vergangenen Jahres haben Sie erwartet, dass in den nächsten zwei bis drei Jahren rund 30 Prozent der Zeitschriften in ihrer Existenz gefährdet sind. Steht die Branche am Anfang einer gewaltigen Konsolidierung?
Die Verlage haben die digitale Transformation bislang gut gemeistert. Wir sehen, dass die Paid-Content-Erlöse jährlich zweistellig wachsen und etwa Podcast- und Short-Video-Formate sehr gut angenommen werden. Doch mit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine hat sich das Marktumfeld radikal verändert. Die Kosten sind förmlich explodiert. Ob Papier- oder Energiepreise, steigender Mindestlohn oder Preise für die Postzustellung – die Verlage müssen einen vorab nicht planbaren, erheblichen Mehraufwand verkraften. Deshalb appellieren wir auch mit Nachdruck an die Bundesregierung, die flächendeckende Versorgung mit periodischer Presse zu gewährleisten. Dazu hat sich der Bund im Koalitionsvertrag verpflichtet.
Also eine Zustellförderung?
Entscheidend ist, dass die Förderung von Zeitschriften und Zeitungen neutral und objektiv dort anknüpft, wo die nicht beherrschbaren Kosten entstehen, also bei den gedruckten Exemplaren. Deshalb kann die Förderung an versendete, verbreitete oder eben zugestellte Exemplare gekoppelt werden. Dadurch haben wir eine inhaltsneutrale Größe, die zugleich ein Indikator für die besagten Kosten ist. Das ist fair und für alle nachzuvollziehen. Und es greift nicht in die Transformationsstrategien der Medienhäuser ein. Das halten wir für die bestmögliche Lösung.
Die Presseförderung wird seit Jahren diskutiert. Wann kommt sie endlich in die Gänge?
Es ist zäh. Wir gehen bisher davon aus, dass die Ampelkoalition die Dringlichkeit der Lage begreift und zeitnah Vorschläge macht, die diskriminierungsfrei Zeitschriften und Zeitungen fördert.
Dennoch, Print-Medien stehen massiv unter Druck. Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner hat den Glauben an gedruckte Medien verloren und läutete jüngst konzernweit das Ende des Printzeitalters ein. Wird auch der Magazinmarkt mittelfristig auf eine Digital-Only-Strategie umschwenken?
Die Magazinbranche ist in vielen Segmenten tätig, in denen digitale und gedruckte Medien wunderbar funktionieren. Marken in der Fachpresse, wie juristische Fachinformationen, datenbankgestützte Angebote – all diese Medien behaupten sich digital sehr gut. Es gibt aber auch Magazine, die vor allem gedruckt ihre Abnehmer finden. Denken Sie an „Landlust“ aus dem Landwirtschaftsverlag. Die haben erst jetzt eine Webseite aufgebaut, weil Print hervorragend funktioniert.
Also keine Welt ohne Print?
Ich bin mir sicher, die Magazinbranche wird noch sehr lange auf Gedrucktes setzen können – vielleicht in anderen Frequenzen. Das heißt, wöchentliche Titel erscheinen zweiwöchentlich, zwei-wöchentliche dann monatlich. Kurzum: Print ist und bleibt ein gut funktionierender Anker für die Medienhäuser.
Die Inflation trifft auch die Personalkosten. Die Gewerkschaften fordern Gehaltszuwächse von acht Prozent. Ist das zu verkraften?
Ich gehe davon aus, dass sich die Tarifparteien auf eine vernünftige Lösung einigen. Doch die gegenwärtigen Forderungen der Gewerkschaften sind einfach zu hoch. Denn die Inflationsrate wird schon bald wieder sinken. Ich rechne deshalb damit, dass sich beide Tarifparteien bei den Gehaltszuwächsen irgendwo in der Mitte treffen.
Nun bleiben die Gewerkschaften bei der Post seit Monaten hart und streiken. Trifft dies die Verlage?
Die Verlage distribuieren rund 95 Prozent der Magazine über die Deutsche Post. Damit ist die Post der Monopolist. Ich finde es deshalb hochgradig schwierig, wenn die Gewerkschaften diese Infrastruktur bestreiken. Dadurch wird der Vertrieb von Abonnement-Titeln schwer belastet, der in den vergangenen Jahren stabilere Umsätze generierte als der Handelsumsatz.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat jüngst ein Eckpunktepapier herausgegeben, dass der Zustellung von Briefen mehr Zeit einräumt. Wird dies die Magazinzustellung belasten?
Das Wichtigste für einen Abonnenten ist, dass er seine Zeitschrift an jenem Tag im Briefkasten vorfindet, an dem er sie erwartet. Und das muss die Post gewährleisten. Wir werden weiter alle Hebel in Bewegung setzen, um die Post hier auf Kurs zu halten. Aktuell sieht es so aus, dass sich die Zustellung von Magazinen etwas verbessert hat. Das war in der Pandemie-Phase nicht immer der Fall.
Die Verlage haben verschiedene Stellschrauben, um steigende Kosten abzufedern. Dazu zählen die Copypreise. Steigen diese?
Durch die gestiegenen Kosten heben die Verlage die Copypreise je nach Segment und Titel sehr unterschiedlich an. Wenn das Produkt stimmt, zeigt die Leserschaft Verständnis. Daher sind Preiserhöhungen am Markt durchsetzbar. Dennoch finden solche Maßnahmen ihre Grenzen. Sie reichen bei weitem nicht aus, um die gewaltigen Kostensteigerungen zu kompensieren.
In den vergangenen Jahren waren Blatt-Innovationen gang und gäbe. Sind die Verleger angesichts des wirtschaftlichen Umfelds mit der Einführung neuer Titel vorsichtiger geworden?
In der Corona-Pandemie wurden diverse neue Special-Interest-Titel gestartet. Jetzt registrieren wir etwas weniger Neuheiten. Vor allem hochauflagige Printmagazine sind derzeit kein Thema. Bei Special Interest sieht dies anders aus. Hier sind die Verlage bereit, neue Titel auszuprobieren.
Zu einer der wichtigen Erlössäule der Verlage gehört Paid-Content. Wächst das Geschäft trotz Konsumflaute?
Ja, die Paid-Content-Umsätze nehmen auch in dem wirtschaftlich schwierigen Umfeld zu. Allein bei den Fachmedien lagen die Digitalerlöse in 2021 bei über einer Milliarde Euro, hinzu kommen 2022 weitere 350 Millionen Euro bei den Publikumsmedien. Ich rechne damit, dass die Paid-Content-Umsätze bei Magazinen in den nächsten zwei Jahren auf zwei Milliarden steigen. Das wäre eine signifikante Größenordnung.
Die Macht von Google, Meta und Co. wächst immer stärker. Weist der Digital Markets Act (DMA) die US-Techindustrie wirksam in die Schranken?
Der DMA wäre ein gutes Werkzeug. Er könnte ermöglichen, dass die großen Plattform-Monopole Presseinhalten einen diskriminierungsfreien Zugang ermöglichen müssen. Wichtig ist aber, dass die EU-Kommission dies richtig umsetzt. Das heißt: Das Werkzeug ist zwar da, es fehlt jedoch noch der Wille, das Schwert so scharf werden zu lassen, wie es sein müsste. Die EU-Kommission hat es in der Hand, mit dem DMA einen fairen Wettbewerb zu ermöglichen. Wir gehen davon aus, dass die hohen Strafen, die Google zahlen muss, ihre Wirkung entfalten.
Die Wirtschaftskrise drückt auf die Vermarktung. Belastet die Ukraine-Krise das Geschäft?
Die Anzeigenmärkte für gedruckte Produkte bleiben weiter herausfordernd. Vor dem Ukrainekrieg konnten wir sogar eine steigende Nachfrage registrieren. Die werbungtreibende Wirtschaft steht jetzt noch auf der Bremse. Daher ist es wichtig, dass wir starke Vertriebsmärkte haben. Vor allem bei Abo und bei Paid-Content. Ich gehe davon aus, dass 2023 für die Vermarktung erneut ein schweres Jahr wird. Selbst wenn die Krise abebbt, springt der Anzeigenmarkt erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung an. Die Unternehmen warten dann meist drei bis vier Monate, bis sie ihre Werbeausgaben wieder erhöhen.
Sie erwähnen die Vertriebsmärkte, um das schwierige Anzeigengeschäft zu kompensieren. Nun will RTL 23 Titel einstellen. Grosso-Verbandschef Frank Nolte befürchtet deshalb finanzielle Einbußen. Sehen Sie hier Probleme für das Grosso-System?
Als Marktbeobachter wissen Sie, dass Grosso-Verbandschef Frank Nolte hier in eigenem Interesse spricht und die Folgen der Magazin-Einstellungen besonders dramatisch darstellt. Fakt ist doch, dass RTL die großen, auflagenstarken Marken weiter verlegt. Die Verlage glauben weiter stark an Print. Und mit der neuen Branchenvereinbarung zwischen Presse-Grosso und den Verlagen ist eine an den Realitäten orientierte Lösung möglich. Das ist ein wichtiger, stabilisierender Schritt für beide Seiten und den Medienmarkt insgesamt. Das sieht in weiten Teilen Europas ganz anders aus.
Kommen wir zu weiteren Herausforderungen für die Medienwelt. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Michael Spence geht davon aus, dass ChatGPT in fünf bis zehn Jahren große Teile der Arbeit von Journalisten übernehmen wird. Macht KI Redaktionen überflüssig?
Nein, ganz sicher nicht. Wir erleben derzeit einen enormen technologischen Sprung, der mindestens mit der Erfindung der Druckerpresse durch Gutenberg vergleichbar ist. Neue intelligente Systeme schaffen es, Texte in Sekundenschnelle zu erstellen oder zu verarbeiten. Von den neuen KI-gestützten Sprachmodellen werden deshalb viele Wirtschaftszweige wie das Finanz- oder das Rechtswesen profitieren. Aber auch das Verlagswesen wird hierdurch in allen Bereichen, nicht nur der Redaktion, disruptiv weiter transformiert. Dennoch wird es Redakteurinnen und Redakteure nicht verdrängen. Im Gegenteil: Jene Redaktionen, die sich mit den Systemen befassen und diese einsetzen, haben hierdurch die Chance, mehr Informationen schneller und tiefgründiger zu verarbeiten. Damit kann die KI helfen, die Ergebnisse noch besser zu machen und sich damit im Wettbewerb durchzusetzen.
Nun bedient sich die KI vorhandenen Texten aus Zeitungen und Magazinen. Werden hierdurch keine Urheberrechte verletzt?
Der aktuelle Rechtsrahmen reicht für diese Umwälzungen nicht aus. Stellen Sie sich die Suchmaschine Bing von Microsoft in Kombination mit dem Chatbot vor, bei der gerade ein Beta-Test läuft. Hier geben Sie eine Frage ein und der Chatbot schreibt aus den vorhandenen Informationen im Netz zeitgleich eine Antwort. Wenn ein Marktbeherrscher wie Google so agiert, haben wir eine neue Dimension des Marktmachtmissbrauchs. Auch wenn KI-gespeiste News-Generatoren einen Roboterjournalismus erschaffen – erste Beispiele gibt es schon, „The GPT Times“ –, greift das klassische Urheberrecht nicht.
Man muss das aber weiterdenken. Suchmaschinen könnten künftig weltweit die Inhalte vorhandener Zeitungen zu neuen Artikeln aufbereiten und sie einer breiten Masse anbieten. Hätten die Verlage nicht das Nachsehen?
Das ist eine reale Gefahr. Wenn dies ein Monopolist auf seiner Plattform anbietet, dann ist dies eine Selbstbegünstigung mit einem eigenen Tool. Dies muss man wettbewerbsrechtlich prüfen. Suchmaschinen durchsuchen auch alle Beiträge hinter den Paywalls – sie spielen sie nur nicht aus. Wenn eine an die Suche gekoppelte KI sich aus allen Informationen bedient, wird es extrem kritisch, weil es keine Transparenz gibt, welche Informationen woher stammen. In der Suche müsste dann niemand mehr auf die Links einzelner Presseartikel klicken, sondern hätte in Sekundenschnelle einen neuen, KI-generierten, personalisierten Beitrag. Die Medien und die Gesellschaft benötigen einen Plan, für eine neue Medien- und Digitalkompetenz, damit die neuen Möglichkeiten dem Gemeinwohl nutzen und nicht schaden.